FLUT UND STERBLICHKEIT

Flut und Sterblichkeit ist ein Zyklus von Erzählungen, die der Frankfurter Schriftsteller Vougar Aslanov nach den Motiven der Mythen, Sagen und Märchen aus dem alten Zweistromland, aus Indien, dem Kaukasus, Zentralasien, nach den altgermanischen Epen sowie Schamanen-Geschichten aus Sibirien entwickelt hat. Die alten Überlieferungen, die von Menschen und Göttern erzählen, bleiben auch in unserer Zeit nicht wirkungslos. Denn es ist kein Geheimnis, dass verschiedene Völker immer auch an verschiedene Mythen geglaubt hatten, was auch heute nicht viel anders ist. Oft auch kennt ein Volk die Mythen nicht, die die Kultur und Geschichte eines anderen Volks geprägt hatten. Daher sollte es zur besseren Verständigung unter den Völkern und Kulturen kommen, wenn man nicht nur die eigenen Mythen und Sagen, sondern auch jene von fremden Völkern kennen lernen würde. Mit einem von Holger Much illustrierten Buchumschlag. „Geschichten von Menschen und Göttern“ ist ein Zyklus von Erzählungen, die ich nach den Motiven der Mythen, Sagen und Legenden aus verschiedenen Epochen und Kulturen geschrieben habe.
Die Überlieferungen aus den alten Zeiten sind nicht gleich: Eine Legende hat eher einen lokalen Charakter und ist mit einem Ereignis, mit einer Geschichte aus einem bestimmten Ort verbunden. Die Sagen sind zumeist Helden- und Liebesgeschichten, die Märchen können dabei als Endstoff betrachtet werden, da sie in der Regel später entstanden sind. Ich halte unter allen Überlieferungen die Mythen wichtiger, weil diese irgendwann in alten Zeiten einen Grundstoff gebildet hatten, worin es öfter um die Entstehung der Welt und göttlichen Weltordnung ging. Die alten Religionen waren auch fast immer aus diesem Grundstoff entwickelt, daher hatten die Mythen, neben den Sagen über die Götter und Helden, immer einen größeren Einfluss auf die Menschen, als die anderen Überlieferungen.

Ich bin auch überzeugt, dass das Geheimnis der Welt in den Mythen verschlüsselt ist. Wer aber mit den Mythen arbeitet, ähnelt einem Dompteur, der Löwen dressiert. So wie in jedem Augenblick ein Dompteur von Löwen zerrissen werden kann, kann auch ein Mensch, der mit den alten Mythen arbeitet, von ihnen verschlungen werden. Er gleicht auch einem Taucher, der zu tief ins Meer hinabtaucht, viele kehren nie wieder zurück. Wie ein mächtiger Ozean eine Stadt überschwemmt, so können auch die Mythen die Persönlichkeit des Menschen überfluten. Wodurch wird dies verursacht? Hat man erst einmal die Kraft, Energie und Schönheit, die in Mythen versteckt sind, entdeckt, kann man davon fasziniert werden. Sie kön-
nen sich aber nicht vorstellen, was für ein Risiko Sie eingehen,
wenn Sie tief in einen Mythos eintauchen. In der Welt der
Mythen herrscht eine feste Ordnung, es gibt keine Frage, die
sie nicht beantworten.
Ergreifen die Mythen jedoch die Macht über Ihre Persön-
lichkeit, wird die Faszination zur unstillbaren Sehnsucht,
die Begeisterung zur wahren Besessenheit. Das ist die große
Gefahr. Deshalb will wohl überlegt sein, ob man sich in einen
Mythos vertieft oder es besser sein lässt.
Dennoch gehen manche diesen gefährlichen, abenteuervol-
len Weg.

Frisch erschienen im Verlag Edition Outbird

FLUT UND STERBLICHKEIT

Nach Motiven der sumerisch-akkadischen
und babylonischen Mythen


In Uruk, im Tempel des Obergottes Enlils, versammelte
eines Tages der Oberpriester Kuntesch seine Gemeinde um
sich. Er trommelte, als ob es im Himmel donnere, er rief so
laut und so rasend nach den Göttern, als wolle er diese auf
den Altar niederbringen. Indes er weiter trommelte, verkün-
dete Kuntesch: „Oh, wie groß waren die Taten in der Ver-
gangenheit! Einst gab es eine Flut, eine solch mächtige Flut,
dass die ganze Erde tief unter wasser stand. Es gibt eine Vor-
geschichte, warum es zu dieser Flut gekommen war. Daher
muss ich alles von Anfang an erzählen. Am Anfang war nur
ein tiefer Abgrund, in dessen Tiefe wasser floss, und der gött-
liche Geist flog über das wasser. Durch diesen Flug wurde das
wasser schwanger und gebar einen Berg. Dieser war die Mut-
ter Erde, die ihrerseits bald den Gott Himmel gebar. Bald
wurde Mutter Erde vom Himmel geschwängert und gebar
die Götter, deren ältester Enlil war. Enlil mochte seinen Va-
ter Himmel nicht; dieser lag nur untätig in den Armen seiner
Mutter und Frau Erde.
Eines Tages nahm Enlil ein Messer und trennte die beiden,
so ging der Himmel hinauf und die Erde blieb unten. Danach
tötete Enlil den Drachen Tiamat und schuf aus dessen Leib
und Blut die welt ringsum. Unsterblich wurden die Götter ge-
schaffen und sie lebten sorgenfrei. Als jedoch einst ihr Vorrat
an Essen und Trinken zu Ende ging, wurden sie nachdenklich:
Sollten sie nicht ein wesen schaffen, das ihnen ähnlich wäre
und für sie arbeitete? Das sollte jedoch ein schwaches wesen
sein, das ihnen dienen und für sie arbeiten würde; so müssten
sie selbst nicht arbeiten und ans tägliche Brot denken. Im Göt-
terrat, den der große Gott Enlil leitete, wurde entschieden, ein
wesen ähnlich den Göttern zu schaffen, das aber viel schwä-
cher sein müsste als die Götter und auch sterblich, damit es
sich leicht unterordnen ließe. Dieses neue wesen dürfte nicht
im Himmel, sondern auf der Erde leben. Man fand auch einen
Namen für dieses wesen: Mensch. Er musste alle Schwierig-
keiten des Lebens auf der Erde bewältigen, arbeiten, Tiere hal-
ten, ackern und ernten, den größten Teil der Ernte aber den
Göttern zum Opfer bringen. So begann das Leben des Mens-
chens auf der Erde, das voll von schweren Mühen und Sorgen,
versehen mit Trauer und Kummer war. Die Götter wollten,
dass dieses wesen einen Nachkommen bekommt und waren
bereit, nun seinen weiblichen Teil zu schaffen. Als der Mann
im Schlaf war, machten sie zunächst aus seinem Bein eine Frau,
dann aus seinem Arm, dann aus seinem Ohr. Aber jedes Mal
sah der Mann sehr schlecht und hilflos aus ohne dieses oder
jenes Körperteil. Dann entschieden sich die Götter, eine Frau
aus seiner Rippe zu schaffen; es würde niemand sehen, dass in
seinem Leib eine Rippe fehlt, dachten sie. Der Mann erzog
mit dieser Frau die Kinder und die Menschen vermehrten sich
immer weiter auf der Erde. Aber das Schicksal des Menschen
war weiterhin von den Göttern abhängig, er war kein Herr
über sich; das, was er hatte, auch seine Familie, gehörte ihm
nur im Laufe seines Lebens. Der Preis für alle seine schweren
Mühen und Leiden, die er ertragen musste, war der Tod, der
nach einem kurzen Aufenthalt auf der Erde folgte und ihm al-
les wieder entzog. Ja schwer, sogar unerträglich war das Leben
des Menschen auf der Erde, dennoch wollten die Götter dar-
an nichts ändern; sie verlangten vom Menschen weiter treuen
Dienst, Beten und das Bringen von Opfern, und das alles, wäh-
rend er sie für ihr sorgloses und sattes Leben versorgen musste.“
Der Oberpriester Kuntesch trommelte ein weiteres Mal sehr
laut und leidenschaftlich und rief wieder sehr heftig nach den
Göttern; derweil waren jetzt in seiner Stimme mehr Trauer als
Freude, mehr Enttäuschung als Begeisterung zu hören…

Die Großgöttin Inanna war alleiniger Trost für die Menschen.
Sie stand ihnen am nächsten. Die ganze Nacht strahlte sie und
schickte ihnen ihre Liebe und blieb bis zum Morgengrauen
im Himmel. Die Liebesgöttin wollte dadurch den Menschen
das Leben erleichtern, dass sie sich der Liebe hingaben und für
eine Zeit vergaßen, welch schweres Schicksal sie hatten. Eines
Nachts stand die Großgöttin Inanna wieder am Himmel und
schaute sich um: Der ganze Himmel war von ihren Strahlen
erhellt, die Erde schwamm im Licht, das sie nach unten schick-
te. Die Liebesgöttin ward stolz und fröhlich und sprach: „Ich
bin Königin des Himmels, die Herrin der Länder, der Stern des
Sonnenaufgangs. Alles ist mir untergeordnet, im Himmel und
auf der Erde.“
Doch als sie sich an die Unterwelt erinnerte, wurde sie nach-
denklich. Im Totenreich herrschte ihre ältere Schwester Göttin
Ereschkigal und das war eine Welt, in die Inanna nicht dringen
konnte.
„Nein“, sagte die Liebesgöttin. „So darf es fürderhin nicht
länger bleiben: Meine Schwester quält die armen Toten, die es
sehr schwer haben. Auch die Toten brauchen Licht und Lie-
be.“
So entschied sich Inanna, in die Unterwelt hinabzusteigen,
ohne jemandem etwas davon zu sagen, außer ihrem Diener
Ninschpur, dem die Liebesgöttin erzählte, dass sie für eine
kurze Zeit ihre Schwester im Totenreich besuchen wolle. So
stieg Inanna in die Unterwelt hinab, verharrte vor dem Tor
und wartete, bis der wächter des Tores nahte.
„Heh, Wächter!“, rief sie laut und fröhlich. „Öffne mir das
Tor! Ich will dort hinein!“
„Wer bist du?“, fragte der Wächter erstaunt. „Noch nie habe
ich erlebt, dass jemand hier so laut rief.“
„Ich bin Königin des Himmels, die Herrin der Länder, der
Stern des Sonnenaufgangs. Alles ist mir untergeordnet, im
Himmel und auf der Erde“, sprach die Göttin feierlich und
würdevoll.
„Wenn du die Königin des Himmels, die Herrin der Länder
und der Stern des Sonnenaufgangs bist, was sucht du dann
hier im Totenreich?“, fragte der wächter wieder erstaunt.
„Hier gelten andere Gesetze und der wille der Großgöttin
Ereschkigal steht über allem. Nur sie kann dir erlauben, he-
reinzukommen.“
„Ereschkigal ist meine ältere Schwester“, antwortete die Lie-
besgöttin. „Ich bedauere es sehr, dass sie ewig in der Unterwelt
verweilen muss. Dies will ich nun ändern. Meine Stärke, mein
Licht reichen aus, um auch die Unterwelt zu erhellen, den To-
ten und meiner Schwester selbst will ich das Licht bringen, in
ihren Herzen will ich die Liebe erregen, sie alle wieder glück-
lich machen. Trauer erfüllt sonst mein Herz, wächter! wenn
ich von oben hinunterblicke und an das dunkle Totenreich
denke, schmerzt es mich sehr. Es muss nicht mehr so bleiben!
Sag meiner Schwester, der Göttin Ereschkigal, Bescheid, dass
ich hergekommen bin, um das zu ändern. Sag ihr, dass sie mich
hereinlässt, damit ich alle wieder glücklich mache.“
Kopfschüttelnd ließ sie der wächter alleine vor dem Tor zu-
rück, trat vor Ereschkigal und berichtete alles der Herrin der
Unterwelt.
Wie immer war Ereschkigal nicht alleine, sie saß umringt
von zehn Richtern. Die Nachricht des Torwächters erzürnte
sie sehr.
„Habt ihr dies alle gehört?!“, fragte die Herrscherin des To-
tenreichs die Richter. „Meine kleine Schwester kommt hier-
her, um uns und unsere Toten glücklich zu machen! Macht
will sie nun auch im Totenreich gewinnen! Sie vergisst jedoch,
dass unser Vater, der große Enlil, unsere Aufgaben einst ver-
teilt hat: Ihr gab er die Macht im Himmel, um ihn am längsten
zu beleuchten, mich schickte er hierher, um das Totenreich zu
regieren. Mit keinem wort zweifelte ich an seiner Entschei-
dung, denn es war der wille des großen Enlil; ich übernahm
gehorsam meine Aufgabe und erfülle sie hier. was will aber
Inanna in wahrheit? Sind für sie vielleicht zu wenige Männer
im Himmel und auf der Erde? Sucht sie jetzt die Männer auch
im Totenreich?“

Frisch erschienen im Verlag Edition Outbird

VERBRENNUNG DER SCHLANGEN

Nach Motiven einer Geschichte aus dem altindischen Epos Mahabharata

Es war die Zeit, als die Götter noch sterblich waren und dieweisen und Einsiedler große Macht hatten. Der gottähnlicheAsket und Sänger Kaschjapa lebte auch in dieser Zeit auf der Erde. Der heilige Mann war von allen Lebenden für seine Mühen um das Gute und Großtaten geachtet.

Der große Weise träumte von Nachkommen: Er heiratete zwei himmlische Jungfrauen – die Schwestern Winata und Kadru – und entschied sich eines Tages das Opfer für dieses Ziel zu bringen. Kaschjapa lud die Götter und Halbgötter, Einsiedler und weisen ein, um seine Opferbringung zu feiern. Und als Gottvater Indra kam, sagte ihm Kaschjapa: „Bring mir Holz, erfülle meinen Befehl!“
Indra brachte so viel Holz für ihn, bis im wald ein Holzberg
gebildet wurde. Der große Gott hörte aber nicht auf und trug
immer weiter Holz auf. Und er begegnete auf seinem wegplötzlich weisen, die körperlich so klein und ohnmächtig waren, dass alle zusammen ein kleines Holzstück kaum tragen konnten. Die geistigen Großtaten schwächten sie so. Sie fielen in eine kleine Grube hinein, die mit wasser gefüllt war und mussten mächtig kämpfen, um dort überhaupt herauszukommen. Als Indra das alles sah, lachte er laut und machte sichlustig über diese Männer. Das machte die weisen sehr wütend und sie schworen: „Im Namen unserer Strenge in den Gesetzen und der Unumstößlichkeit unserer unbrechbaren Gelübde sei ein neuer Indra geschaffen, der hundert Mal stärker wird als dieser Eingebildete.“
Als Indra das hörte, verstand er, dass er den gerechten Zorn der weisen ausgelöst hatte. Er ging zu Kaschjapa und sagte ihm: „Hilf mir, oh großer weiser, mich von der Verwünschung der anderen weisen zu befreien.“Indra erzählte Kaschjapa, wie es zum Streit zwischen ihm und den weisen gekommen war und bat ihn, die Erschaffung eines zweiten Indra zu verhindern. Kaschjapa sprach die von Indra gekränkten Weisen an: „Indra hat Brahma geschaffen“,sagte er ihnen. „Deswegen wäre die Erschaffung eines zweiten Indra gegen den Willen Brahmas.“

Und Kaschjapa schlug vor, dass sie den zweiten Indra nicht als Gott, sondern als Indra unter den Erdtieren und Vögeln schaffen. Das wurde angenommen und die Weisen waren bereit, ihn unter den Erdtieren und Vögeln zu schaffen. Die Schwestern Winata und Kadru, die Frauen von Kaschjapa, wurden für diese große Aufgabe ausgewählt: Eine sollte Indra unter den Erdtieren und Indra unter den Vögeln gebären, die andere müsste einem Sonderwesen – der Schlangen-Sippe – den Anfang geben und eine von diesen sollte Indra unter den Schlangen werden.
Ein Blick des weisen Kaschjapa reichte aus, damit Winata
und Kadru schwanger werden konnten: Winata brachte nur
zwei Eier hervor, ihre Schwester tausend Eier. Nach fünfhun-
dert Jahren schlüpften aus den Eiern Kadrus tausend Schlan-
gen, auf die Kadru sehr stolz war. Der älteste von ihnen war
Schescha, Indra unter den Schlangen, der zweite wasuki, die
längste unter den Schlangen, und der dritte war Takschaka,
der böseste und tückischste unter den Schlangen. Die drei äl-
testen Schlangen waren von männlicher Gestalt…

Eines Tages sahen die Schwestern ein sehr schönes weißes
Pferd und Winata sprach: „Das ist das göttliche Pferd, das
geboren wurde, als die Götter das göttliche Getränk Amirat
schufen, und es ist ganz weiß wie Milch und hat nirgendwo
einen schwarzen Fleck.“
„Nein“, sagte die Kadru. „Dieses Pferd hat einen schwarzen
Schweif, ich habe das jetzt gemerkt.“

Die Schwestern stritten darüber lange, bis winata sagte: „Es
ist ganz weiß und hat auch einen weißen Schweif. Ich bin be-
reit, mit dir darüber zu wetten.“
„Nein“, Kadru wollte nicht aufgeben. „Es hat einen schwar-
zen Schweif. Ich bin auch bereit zu wetten. Unter der Bedin-
gung, wer verliert, wird zur Sklavin der anderen.“
Sie entschieden sich, am nächsten Tag zur Insel im Meer zu
fliegen, wo dieses Pferd lebte, und alles genau zu beobachten.

Kadru kam noch am selben Tag zu den Schlangen – ihren
Kindern – und sagte: „Ich weiß nicht, was mich dazu zwang,
aber ich habe nun mit meiner Schwester Winata gewettet,
wenn wir morgen feststellen, dass das göttliche Pferd einen
schwarzen Schweif hat, wird sie zu meiner Sklavin. Das Pferd
hat aber wirklich einen weißen Schweif, wie winata sagte,
und deswegen würde ich selbst zur Sklavin meiner Schwester,
wenn ich nichts dagegen unternehme. Ihr müsst morgen früh
zur Insel im Meer gehen und den Schweif des Pferdes so um-
wickeln, dass dieser aus der Ferne ganz schwarz aussieht.“
Ihre Kinder erfüllten jedoch die Erwartung der Mutter
nicht, weil sie mit ihr nicht einverstanden waren.
„Du tust Unrecht, oh Mutter“, sagten sie. „Und willst auch
uns dazu zwingen. Wir können das nicht tun, was du sagst.“
Die Antwort ihrer Kinder machte Kadru sehr wütend und
sie schrie empört: „Es ist eure Pflicht, der Mutter zu gehor-
chen und wortlos zu erfüllen, was sie euch sagt.“

Die Schlangen lehnten erneut ab, ihre Bitte zu erfüllen.
Kadru betrachtete das als große Achtungslosigkeit ihr selbst
gegenüber und verfluchte ihre Kinder mit den Worten: „Ich
verfluche euch alle, meine Kinder – alle Schlangen wegen die-
ser Ungehorsamkeit und Unachtung der Mutter gegenüber!
Es kommt die Zeit, in der ihr alle verbrannt werdet.“

Die Schlangen hatten das nicht erwartet und fragten die
Mutter, was das bedeuten sollte. Darauf antwortete Kadru
ihren Söhnen und Töchtern:

Es kommt Dschanamedschaja, der Schlangen-Vernichter,
Für die Schlangen-Sippe wird er ein grausamer Richter.
Er kommt einst, der Herrscher, er kommt in seiner Zeit
Und die Giftigen er dann wirklich ins Feuer treibt.

Am nächsten Tag flogen die beiden Schwestern zur Insel
im Meer, um das Pferd genau anzuschauen. Das Pferd hatte
tatsächlich einen schwarzen Schweif. So hat Kadru die wette
gewonnen und ihre Schwester winata zur eigenen Sklavin ge-
macht. Kadru verstand, dass ihre Söhne wegen der Angst vor
ihrem Fluch doch hierhergekommen waren und den Pferde-
schweif umwickelt hatten, wie sie es gewünscht hatte. Es war
aber zu spät: Sie konnte ihren Fluch nicht mehr zurückneh-
men.
Nach fünfhundert Jahren wurde aus dem anderen Ei Wina-
tas ihr zweiter Sohn geboren. Garuda hieß er und war Indra
unter den Vögeln: stark, mächtig und furchtlos. Er befreite
seine Mutter und danach verließen beide Schwestern wieder
die Erde und gingen in den Himmel zurück, wie auch Garuda
selbst.

Wasuki war der König der Schlangen. Denn einst haben
die Götter ihn als Seil genutzt, als sie den Berg ins weltmeer
stürzen wollten, um das Honigmeer zu schaffen, das für sie
als Amirati – das Getränk der Unsterblichkeit – dienen sollte.

Wasuki war sehr klug, regierte und richtete immer gerecht,
rief die Schlangen zu Vernunft und edlem Verhalten auf. Ob-
wohl nicht alle von ihnen immer das taten, was ihr König ver-
langte, waren die Schlangen voller Achtung ihm gegenüber.
Trotz alledem beunruhigte wasuki eine Sache sehr: jener
Fluch der Mutter…

Frisch erschienen im Verlag Edition Outbird

SIEBEN PRINZESSINNEN

Nach Motiven der Dichtung von Nizami Gändschewi
„Sieben Schönheiten“ 1

Nach dem Tod seines Vaters sollte Prinz Bahram der neue
Schah des Iran werden. Doch viele der Hofleute waren da-
gegen. Die Zeit der Sassaniden sei vorbei, sagten viele von
ihnen. Und während Bahram sich im Jemen aufhielt, wurde
sein Vater, der Schah Jasdegard, gestürzt und ermordet. Jas-
degard galt als ein grausamer Schah und war beim Volk des
Iran unbeliebt. Nach seinem Sturz brachten die Hofleute ei-
nen alten Mann auf den Thron; sie wollten in dessen Namen
ab jetzt den Iran selbst regieren. Als Bahram vom Sturz und
der Ermordung des Vaters hörte, eilte er zurück in den Iran.
Viele Krieger aus dem ganzen Sassaniden-Reich waren auf
seiner Seite und wollten ihm helfen, den ihm zustehenden
Thron zurückzuerobern. Es war auch sehr wahrscheinlich,
dass sich das Volk des Iran auf die Seite des Thronprinzen
stellen würde. Nun dachten die Hofleute, Bahram auf an-
dere weise daran zu hindern, Schah des Iran zu werden. Sie
stellten dem Thronprinzen eine unerfüllbare Bedingung:
wenn er der Schah Irans werden wolle, müsse er die Kro-
ne des Schahs aus einem Löwengehege herausholen. Man
hoffte, dass er dies nicht schaffen und von den Löwen zerris-
sen würde. Bahram nahm dennoch die Herausforderung an
und in einigen Tagen sollte die Rettung der Krone vor den
Löwen stattfinden. Bahram war ein junger Mann, dem die
Angst nicht bekannt war: Als Kind wurde ihm die Kampfes-
kunst gelehrt, er konnte mit dem Schwert hervorragend um-
gehen, es gab in der Umgebung niemanden, der die Pfeile so
schießen konnte wie er. Deswegen war er bereit, gegen den
Löwen um die Krone zu kämpfen und hatte keinen Zweifel
daran, dass er es schaffen würde.
Einen Tag vor dem bevorstehenden Kampf kam ein junger
Mann zu ihm und stellte sich als Sohn des Regenten der Pro-
vinz Gilan vor.
„Ich heiße Rast Röwschän“, erzählte der junge Mann weiter,
„meine Mutter ist Inderin; ich lebte viele Jahre bei meinen
Onkeln in Indien und wurde dort von den besten Brahma-
nen und weisen unterrichtet. Bahram, denkst du wirklich da-
ran, gegen die zehn Löwen zu kämpfen? Du bist sehr stark,
du beherrschst die Kampfeskunst gut, obwohl du noch nicht
viele Erfahrungen gesammelt hast. Mit allen deinen Vorzügen
wirst du es nicht schaffen, diese Aufgabe zu erfüllen. Ich habe
keinen Zweifel daran, dass du einen Löwen töten wirst. Viel-
leicht, mit etwas Glück auch den zweiten, na gut, du verletzt
noch den dritten, aber dann wirst du von den anderen bis auf
die Knochen gefressen. wer sich diesen Löwenkampf um die
Krone ausgedacht hat, war sich sicher, dass du da nie lebend
rauskommst.“
Bahram war empört darüber, was ihm der junge Mann er-
zählte.
„Was erlaubst du dir, so was über mich – den Thronfolger der
großen Sassaniden – zu reden? Du kennst meine Stärke nicht!
Hast du gesehen, wie ich mit dem Schwert spiele, hast du ge-
sehen, wie ich die Pfeile schießen kann? Hast du mich auf der
Jagd gesehen? Ich hefte mit dem Pfeil das Bein einer Antilope
an ihren Kopf. Hast du davon gehört, wie ich einst den Dra-
chen besiegt und getötet habe? Ich würde den Kampf auch
gegen hundert Löwen aufnehmen, um den Sassaniden-Thron
zu retten, nicht nur gegen diese zehn. Oder willst du mich
überzeugen, auf den Kampf zu verzichten, um den Thron den
anderen zu überlassen? Soll Bahram vielleicht peinlich seine
Niederlage anerkennen? Geh du, Junge, besser weg, sonst wer-
det ihr beide – du und dein Vater – das sehr bedauern.“
Rast Röwschän war allerdings nicht besonders beeindruckt
von dem, was der Kronprinz ihm erzählte, und sagte ihm:
„Bahram, ich bin hergekommen, um dir zu helfen, denke
nichts anderes. Ich sage dir nur eins: Du sollst die Krone von
den Löwen holen, aber nicht mit dem Kampf, sondern mit
dem Kopf.“
„Was meinst du damit? Ich verstehe es nicht.“
„Bahram, sag mir bitte, was ist ein Löwe? Das ist eine Raub-
katze und nichts anderes. Und was mag eine Katze? Sie mag
vor allem spielen. Ich spielte einmal mit meinen Freunden
Tschowgan2. Wir hatten dafür ein gutes Spielfeld im wald
eingerichtet, um in Ruhe spielen zu können. Plötzlich tauch-
ten auf dem Spielfeld zwei Löwen auf. wir hatten nichts au-
ßer den Spielstöcken und wollten uns mit diesen verteidigen.
Aber wenn du wüsstest, was dann passierte: Sie haben nicht
uns überfallen, sondern den Ball. Du kannst dir nicht vorstel-
len, was für eine lustige Szene das war, die Löwen zu sehen,
wie sie hinter dem rollenden Ball herliefen und diesen einan-
der wegnehmen wollten. Wir vergaßen die Gefahr und lach-
ten laut über sie. Und die Löwen verschwanden, weiter hinter
dem rollenden Ball herjagend, im Wald. Nimm dir zwei oder
drei Bälle mit, wenn du morgen zu den Löwen gehst, und wirf
ihnen diese zu. Sie werden die Krone liegen lassen und den
Ball angreifen. Weißt du warum? Weil für sie das, was davon-
rollt, viel faszinierender und spielbarer ist als die tot da liegen-
de goldene Krone.“
Nachdem Röwschän Bahram dieses erzählt hatte, verbeugte
er sich und verließ den Prinzen wieder. Bahram machte sich
Gedanken: Sollte er den Rat des jungen Mannes annehmen
oder besser nicht? Der Sassaniden-Nachfolger überlegte meh-
rere Stunden, bis er sich schließlich für den Rat des Kleinprin-
zen aus der Provinz entschied.
Auf seinen Befehl wurden ihm mehrere Tschowgan-Bälle
gebracht. Bahram erzählte niemandem, was er vorhatte und
nahm die Bälle am nächsten Tag mit, als er zu den Löwen ging.
Auf dem Stadtplatz hatten sich an diesem Tag viele Menschen
versammelt: Alle wollten den Kampf des Kroprinzen gegen die
Löwen sehen. Bahram kam völlig aufgerüstet zum Platz in der
Umgebung der Hofleute. Einer seiner Begleiter erzählte dann
den Versammelten, was nun passieren solle und warum. Der
Kronprinz solle eine Prüfung bestehen und damit beweisen,
dass er wirklich für den iranischen Thron geeignet sei. Das sei
eine iranische Tradition, die seit Jahrhunderten feststehe.
Auf dem Platz hatte man Zäune aufgebaut, hinter denen
die Löwen auf Bahram warteten. Der Kronprinz stieg von
seinem Pferd, sprang über den Zaun und ging auf die Löwen
zu. Gerade vor ihnen lag die Krone der Sassaniden, die auch
Bahrams Vater getragen hatte. Alle warteten atemlos darauf,
wann der Kronprinz die Löwen angreife, um die Krone zu
retten. Die Löwen schauten den Thronfolger böse an und
brüllten. Bahram holte die Bälle aus der Tasche und warf sie
ihnen zu. Die Löwen fielen sofort über sie her. Die Bälle roll-
ten davon und jede Berührung der Löwen setzte sie weiter in
Bewegung. Damit regten sie die Raubkatzen noch mehr auf.
Sie liefen den rollenden Bällen hinterher, spielten mit ihnen
und versuchten, diese einander wegzunehmen. Und das sah
von der Seite so lustig aus, dass die Versammelten nicht mehr
an sich halten konnten und alle laut lachten. Bahram nahm
die achtlos liegen gebliebene Krone, sprang dann über den
Zaun zurück und kam wieder zu den Hofleuten. Keiner hatte
das erwartet; diejenigen, die Bahram als Schah sehen wollten,
waren jetzt sehr erfreut und jubelten von ganzem Herzen. Die
anderen versuchten ihren Neid und Hass zu verstecken und
jubelten mit…

1 Nizami Gändschewi – der wichtigste Vertreter der persischsprachigen
Dichtung Aserbaidschans (12. Jh.), von dem Johann wolfgang von Goethe im „West-Östlichen Diwan“ (1819) sehr begeistert spricht. Erwähnt auch in der Abhandlung von Thomas Mann „Kunst des Romans“
.

2 Ein altes Ballspiel im Orient. Ähnlich dem modernen Polospiel.

Frisch erschienen im Verlag Edition Outbird

DEN EID NIE BRECHEN…

Nach Motiven der altisländischen Sagen aus Snorra- und
Lieder-Edda


Einst lebte auf den Inseln – in Gothland – ein junger Mann
namens Sigi, der stark, klug und reich, aber auch stolz und
streitlustig war. Er sagte, dass er der Sohn Odins sei. Einmal
entdeckte seine Mutter, damals ein junges Mädchen, Odin im
wald, den die Riesen verletzt und dort liegen gelassen hätten.
Sigis Mutter hätte Odin dann mehrere Tage betreut, bis er
wieder gesund wäre und wieder zurückkehren könnte. Mehre-
re Monate nach Odins Rückkehr habe das Mädchen ein Kind
bekommen – Sigi. Als ein Zeichen, dass Odin Sigis Vater sei,
schenke der Hauptgott seiner Mutter ein Armband für ihn.
Ob es wirklich so war, wusste niemand, Sigi war jedoch stolz,
Sohn Odins zu sein und trug mit großer würde das Armband
zum Beweis.
Sigi hatte einen Nachbarn, der seinerseits einen Diener hat-
te, auch dieser war stark, klug und sehr begabt. Sigis Nachbar
mochte diesen Diener sehr und lobte ihn stets. Als sie einst
zu dritt waren, erzählte Sigi, was er für ein guter Jäger sei. Der
Nachbar deutete auf seinen Diener und sagte, dieser sei ein
besserer Jäger als Sigi. Sigi wollte das nicht dulden und schlug
vor, zusammen mit dem Diener des Nachbarn einmal auf Jagd
zu gehen, um zu sehen, wer der bessere Jäger sei.

Der Nachbar begleitete ihn nicht, er schickte seinen Diener
allein mit Sigi in den wald. Sigi gab sich sehr viel Mühe, den
wettstreit zu gewinnen. Schließlich schoss der Diener jedoch
doppelt so viele Vögel wie er. Für Sigi war das unerträglich
und sehr peinlich. Er tötete nach dieser Jagd den Diener des
Nachbarn und verscharrte ihn im wald. Nachdem Sigi zu-
rückgekehrt war, erzählte er, es sei zwischen ihm und dem
Diener im wald zu einem wettstreit gekommen, wer von ih-
nen den großen Hirsch erlegen könne, als plötzlich vor ihnen
ein Hirsch aufgetaucht war. Der Diener wollte es selbst schaf-
fen, verfolgte den Hirsch und kam nicht mehr zurück. weil
er Sigi jedoch gut kannte, glaubte der Nachbar ihm nicht. Er
ging, begleitet von seinen Leuten, in den wald und fand die
von Sigi begrabene Leiche seines Dieners. Darauf klagte der
Nachbar vor dem König Gothlands, der von Sigi forderte, das
Land zu verlassen.
Sigi versammelte eine Schar Menschen um sich, kaufte meh-
rere Schiffe und bat Gott Odin um Hilfe. Odin lenkte die
Schiffe nach Süden. Sigi eroberte ein großes Land und wurde
dort selbst zum König. Sein Volk nannte man nun Franken
und sein Land das Frankenland.
Sigi wurde ein Sohn geboren – Rerir. Nach dem Tod des
Vaters vergrößerte Rerir Frankenland mit dem Schwert in
der Hand. Rerir hatte keine Kinder und das war sein gro-
ßer Kummer. Als er schon ein alter Mann war, schickten
die Götter eine walküre zu ihm. Diese gab dem alten Herr-
scher einen Apfel und sagte: „Deine Frau soll diesen Ap-
fel essen.“ Das war kein einfacher Apfel, sondern einer, der
auch bei alten Frauen die Schwangerschaft auslösen konnte.
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Nachdem Rerirs Frau den Apfel aß, wurde sie schwanger und
gebar einen Sohn. Ihr Mann sah den Sohn jedoch nie, Re-
rir starb noch vor dessen Geburt. Die Königin nannte ihren
Sohn wölsung, bald darauf starb auch sie. Jene walküre, die
einst für dessen Mutter den Apfel gebracht hatte, wurde von
den Göttern wölsung zur Frau gegeben. Sie bekamen zehn
Söhne und eine Tochter: Der älteste von wölsungs Söhnen
hieß Sigmund, seine Tochter rief man Signi.
Eines Tages kam der König von Gothland Siggeir zu den
wölsungen und begehrte, Signi zu heiraten. Der alte wöl-
sung wusste, dass seine Ahnen aus Gothland stammten, und
war sehr froh über die Möglichkeit, mit Siggeir verwandt zu
werden. „Die Geister der Väter werden froh sein“, sagte er sei-
nen Söhnen. „Durch Signis Heirat mit dem König von Goth-
land Siggeir bekommen wir mit unserer alten Heimat wieder
Verbindung.“
Die schöne Signi war nicht besonders glücklich, als wölsung
ihr erzählte, dass sie jetzt Siggeir heiraten solle.
„Ich kenne ihn nicht, Vater“, sagte sie. „Und auch du kennst
ihn nicht. Vielleicht ist er kein guter Mensch.“
„Signi, hör mir zu: Das ist der wille der Götter, wenn wir
nach vielen Jahren wieder durch deine Heirat die Verbindung
zu unserer alten Heimat herstellen können. Du sollst Siggeir
heiraten!“
„Gut, Vater“, antwortete die schöne Signi. „Ich heirate Sig-
geir, wenn du das richtig und gut findest.“
Darauf war bei den wölsungen ein reges Treiben. Der alte
Vater der Familie wölsungen, der König der Franken, sah an
diesem Tag besonders stolz aus. Seine Tochter Signi heiratete
den König von Gothland Siggeir. Der Honigwein floss wie
wasser, die Gäste waren betrunken und lustig, sie sangen ge-
meinsam schöne alte Lieder.
„Jubelt, jubelt noch mehr, noch lauter auf meine Kosten!“,
schrie der alte wölsung. „Heute ist ein großer Tag!“
Plötzlich trat ein alter Mann in den Hof, in einen langen
schwarzen Mantel gehüllt und mit einem schwarzen Hut, eins
seiner Augen trug einen Verband. Er holte ein großes schwar-
zes Schwert unter seinem Mantel hervor und ging zum Baum,
der in der Mitte des Hofs stand. Der Mann hob das Schwert,
schaute gen Himmel, als ob er dessen Kräfte herunterholen
wollte, und trieb das Schwert bis zum Griff in den Baum.
„wer von euch dieses Schwert wieder herausziehen kann,
dem wird es ferner gehören“, sagte er den auf der Hochzeit
Versammelten und ging; bald war von ihm keine Spur mehr
zu sehen.
„Das war Odin, das war Odin selbst!“, schrie der alte wöl-
sung dem Mann hinterher.
Neben ihm saßen seine zehn Söhne und der älteste von ih-
nen, Sigmund, wollte sich schon zum Baum begeben, um das
Schwert herauszuziehen.
„Nein“, sprach der alte wölsung. „Siggeir ist unser Gast; er
ist auch mein Schwiegersohn und euer Schwager. Deswegen
gebe ich ihm die Möglichkeit, als Erster zum Baum zu gehen
und zu versuchen, das Schwert herauszuziehen.“
Dann sprach der alte wölsung zu Siggeir, der am Nach-
bartisch mit seinen Leuten saß: „Siggeir! Geh und zieh das
Schwert heraus! Dann ist es deins.“
Siggeir bedankte sich, ging zum Baum und umkreiste ihn
mehrmals, dabei flüsterte er: „Nein, das ist unmöglich, es ist
wahrhaft nicht möglich, dieses Schwert herauszuziehen. Wie
nur konnte der Alte dieses Schwert so tief hineinstecken?“
Siggeir versuchte sich mehrmals, er konnte das Schwert je-
doch nicht herausziehen. Dann kamen die neun wölsungs-
söhne nacheinander an die Reihe, aber auch sie schafften es
nicht. Schließlich kam Sigmund und zog das Schwert mühe-
los aus dem Baum. Alle klatschten laut, nur Siggeir schaute
ihn neidisch an.
Siggeir trat dann an den Tisch seiner neuen Verwandten und
bat um Erlaubnis, sich zu ihnen setzen zu dürfen.
„Bitte, bitte, mein König, setz dich“, sagte der Vater der wöl-
sungen höflich und zeigte ihm den Platz gegenüber von sich.
Dankend nahm Siggeir Platz und nahm sich einen großen
Becher Honigwein. Alle schwiegen eine Zeit lang, doch
plötzlich sagte der König von Gothland: „Ich gebe die Hälfte
meiner Staatskasse dafür, dass dieses Schwert meines wird.“
Die Söhne schauten den Vater erstaunt an. Den Alten mach-
ten diese Blicke nachdenklich. Lange antwortete er nicht;
dann blickte er dem Schwiegersohn tief in die Augen und
sagte: „Dieses Schwert gehört jetzt Sigmund. Aber auch du
bist für unsere Familie kein Fremder. Du solltest dich freuen,
dass dein Schwager dieses Schwert gewonnen hat. Solltest du
schon morgen in Schwierigkeiten geraten, kannst du all meine
Söhne und mich selbst zu Hilfe rufen. Und dann wird Sig-
mund mit diesem Schwert von Odin in der Hand dir zur Hil-
fe kommen. Findest du das schlimm?“
Der König von Gothland äußerste sich nicht dazu. Aber kurz
danach sprach er zu Sigmund: „Sigmund, verkaufe mir dieses
Schwert! Ich gebe dir dafür meine gesamte Staatskasse!“
„Wenn es dir so viel wert gewesen wäre, hättest du das
Schwert ja selbst herausziehen können“, antwortete Sigmund
spöttisch.
„Gut, dann du bist wirklich der Einzige, der sich diese würde
verdient hat“, sagte Siggeir und leerte seinen Becher auf den
starken und stolzen Sigmund.
Früh am nächsten Morgen schon wollte der gothländische
König zusammen mit seiner Frau und seinen Leuten die wöl-
sungen verlassen.
„Warum verlässt du uns so früh?“, wunderte sich wöl-
sung. „wir Franken feiern mehrere Tage, wenn jemand
heiratet.“
„Nun, mein Schwiegervater, es war sehr schön bei euch. Ich
bin jetzt auch überglücklich, eine so schöne, kluge Frau wie
Signi zu besitzen und einen solchen Schwiegervater wie dich,
solch einen Helden wie Sigmund, sowie deine anderen Söhne
als Schwäger zu haben. Sollte jemals eine schwere Zeit kom-
men, werden wir alle einander helfen.“
„Warum willst du dann nicht weiter mit uns feiern, wenn du
so glücklich über diese Verwandtschaft bist, Siggeir?“, fragte
ihn der alte König der Franken.
„Wichtige Dinge warten in meinem Land auf mich, die ich
eilends erledigen muss, lieber Schwiegervater“, antwortete der
junge König der Gothländer.
„Wenn dies so ist, dann mache es so, wie du es für richtig
hältst. Auch ich bin stolz auf die Verwandtschaft mit dir, Sig-
geir“, sprach Wölsung.
„Danke, Schwiegervater! Wir können die Hochzeitsfeier
in zwei Wochen in Gothland in meinem Schloss fortsetzen.
Nimm alle deine Söhne mit und komm nach Gothland! Ihr
werdet uns dort besser kennenlernen!“

Frisch erschienen im Verlag Edition Outbird

SAGE VON HAMLET

Die wahre Geschichte des Prinzen von Jütland

Nach Motiven der gleichnamigen Chronik von Saxo
Grammaticus 3


Der König von Jütland, Haurwendil, war ein starker Mann,
der viele Kriege geführt und immer wieder seine Gegner be-
siegt hatte. Auch sein letzter Feldzug gegen die norwegischen
wikinger war erfolgreich. Dem König von ganz Dänemark,
dem berühmten und mächtigen Rörik, brachte er nach die-
sem Sieg erneut große Trophäen und wurde durch den däni-
schen Herrscher wieder gelobt und belohnt.
Ermuntert durch Röriks Lob und dessen Zuneigung, bat
der König von Jütland um die Hand und ums Herz dessen
Tochter, der schönen Gerud. Rörik war froh darüber, dass der
König von Jütland – so ein starker, mutiger und mächtiger
Herrscher – jetzt sein Schwiegersohn würde, und äußerte sein
Einverständnis zu dieser Ehe.
Haurwendil war sehr behaglich, nachdem er Gerud geheira-
tet hatte: Er strahlte vor Glück, Freude war nun seine Beglei-
terin. Er lächelte den ganzen Tag und erzählte den Hofleuten,
wie glücklich er sei. Und als ihm ein Sohn geboren wurde,
wurden des Königs Glück und Freude so endlos und gren-
zenlos, dass viele am Hof neidisch auf ihn wurden. Haurwen-
dil glaubte daran, dass ein merkwürdiger Name dazu dient,
dass jemand lange lebt und sein Leben bis zum Ende gut und
glücklich führt. Daher nannte er seinen neugeborenen Sohn
Hamlet, übernommen vom Namen Hamlothi aus der Spra-
che der Isländer, die damit einen Verrückten, einen Dummen
bezeichneten 4. Tarot war ein entfernter Verwandter von Haurwendil und diente schon lange am Hof. Als der König von Jütland sehr
glücklich über seine Ehe, seine schöne Frau und seinen neu-
geborenen Sohn wurde, war Tarot einer von denen, die sehr
neidisch wurden. Er suchte jemanden, der ihm behilflich sein
könnte, den König zu stürzen und sein Glück damit zu enden.
Als Tarot zu Fenge, dem jüngeren Bruder des Königs, ging,
begrüßte er ihn mit den Worten:
„Oh Fenge, der größte und stärkste Held von Jütland! Ein
Königssohn, der nur das Unglück hatte, als zweites Kind ge-
boren zu sein! Haurwendil siegte öfter dank deinem Mut,
deinem unvergleichbaren Heldentum, deiner Klugheit und
deinen Räten.“

„Sei gegrüßt, Tarot“, antwortete ihm Fenge. „Danke für
dein Lob, ich weiß aber, dass mein Bruder ein größerer Held
und besserer Krieger ist als ich, dass er mutiger und klüger ist
als ich. Unserem Königreich hat er zu einem guten Ansehen
verholfen, dank ihm wurde König Rörik zum Freund unse-
res Landes und gab ihm danach sogar seine Tochter zur Frau.
Ja, ich habe ihm geholfen, in den Schlachten mit ihm zusam-
men gekämpft, die Feinde mit ihm zusammen besiegt. Das ist
meine Pflicht als Bruder des Königs von Jütland, Tarot. Mein
königlicher älterer Bruder war zu mir immer sehr gut, er liebt
mich sehr, schätzt mich sehr hoch. was brauche ich noch? Ich
bin auch zufrieden mit meinem Leben am Hof. Ein Königs-
bruder, ein Krieger, der immer neben dem König mitkämpft,
den das Volk liebt und verehrt. Das ist mir schon genug, Ta-
rot.“
Tarot lächelte nur giftig und sagte ihm zur Antwort: „Bist
du zufrieden mit deinem Leben und deiner Stelle am Hof ?
wovon redest du, Fenge? wie kann man als zweitgeborener
Königssohn zufrieden sein mit den Dingen, wenn man immer
im Schatten seines älteren Bruders bleiben soll? Schau mal
an, wie glücklich nun Haurwendil ist: Er ist König, er hat die
schönste Frau Gerud – die Tochter Röriks – als seine Gemah-
lin, ihm wurde ein Sohn geboren, den er Thronfolger nennt.
was hast du von diesem großen Glück deines Bruders, Fenge?
wo ist deine Stelle dabei, sag mir? Dein Bruder wird immer
glücklicher und glücklicher, davon aber bekommst du selbst
nichts.“
„Warum erzählst du mir solche Sachen, Tarot? willst du
mich gegen meinen Bruder anstiften, du alte Schlange!“
Nach diesen worten stand Fenge auf, nahm den Mann fest
am Bart und schüttelte ihn kräftig: „Vielleicht haben dich die
Feinde unserer Familie so belehrt? wollt ihr nun, dass ich euch
helfe, meinen Bruder zu stürzen? Sag mir, Tarot, wer dich nur
zu mir geschickt hat mit solch schmutzigen und bösen Ge-
danken? Sag mir das schnell, wenn du diesen Raum wieder
unbeschadet verlassen möchtest!“
„Mein Prinz…“, – Tarot kniete vor ihm –, „…alleine Gott
sieht es, wie ich dich liebe, wie ich dich verehre und dir treu
bin. Niemand könnte mich gegen unseren König Haurwendil
anstiften, niemand könnte mich belehren, dich gegen deinen
eigenen Bruder aufzuhetzen. Du sollst mir glauben, mein
Prinz! Der einzige Grund, warum ich heute zu dir gekommen
bin, ist nur das: Ich liebe dich sehr und kann nicht sehen, wie
überglücklich dein Bruder ist, aber du hier einsam und traurig
verweilen sollst.“
Fenge ließ den Bart des Alten wieder los, machte ein paar
Schritte zurück und sagte dann zu ihm: „Ich bin wirklich
allein, Tarot, du hast recht! Aber das lässt sich bald ändern.
Ich möchte Haurwendil sagen, dass ich die jüngere Tochter
Röriks, Dela, heiraten möchte. Er wird sich darauf sehr freu-
en und wird bereit sein, selbst den dänischen König um diese
Ehe zu bitten; das weiß ich. Ich habe die Prinzessin Dela auf
Haurwendils Hochzeit gesehen: Sie ist nicht weniger schön
als Gerud.“
Fenge schwieg, ging zum Fenster, schaute von dort nach un-
ten und kam wieder zu Tarot zurück.
„Wenn ich die jüngere Tochter Röriks, Dela, heirate“, sagte
er jetzt träumend und freudig, „werde ich auch nicht mehr
einsam und allein sein. wir bekommen auch Kinder. Dann
werde ich auch glücklich sein wie mein Bruder jetzt, vielleicht
noch glücklicher. Das alles kann schon bald geschehen, Tarot,
du muss dir keine Sorgen darüber machen.“
„Mein lieber Fenge“, sagte der alte Tarot traurig, „ich höre dir zu
und bedauere es sehr, dass du so naiv bist. woher weißt du, dass
Rörik damit einverstanden sein wird, dass du seine jüngere Toch-
ter Dela heiratest? Er kann deinen Heiratsantrag auch ablehnen,
der alte König aller Dänen! was wirst du dann machen, sag mir?“
„Nein, Tarot, es kann nicht sein, dass Rörik mir für diese
Ehe absagt. Er kennt mich auch schon lange, hat viel von mir,
von meinen Heldentaten gehört. warum soll er mir absagen?
Nein, das wird er nicht tun.“
Tarot wollte dazu wieder etwas sagen, Fenge gab ihm aber
keine Möglichkeit mehr dafür.
„Jetzt geh zurück, Tarot! Geh dahin, wo du sein sollst, und
diene dem König, mir und unserer Familie weiterhin treu.
Und du willst bald davon hören, wann meine Hochzeit mit
Röriks jüngerer Tochter stattfindet.“
„Aber, mein Prinz…“, setzte Tarot erneut an.
Fenge wollte ihm aber nicht mehr zuhören.
„Jetzt geh bitte, und kein wort mehr.“
Nachdem Tarot seinen Raum verlassen hatte, entschied sich
Fenge, den König und dessen Familie zu besuchen.
In den königlichen Räumlichkeiten herrschten wieder Freu-
de, sehr gute Laune und Glück. Haurwendil war sehr froh
über das Erscheinen seines jungen Bruders, auch die Königin
Gerud begrüßte ihn sehr herzlich.
„Fenge, wie schön, dass du zu uns gekommen bist“, sagte
Haurwendil zu ihm. „Ich selbst wollte schon nach dir schi-
cken, mein lieber Bruder! Ich möchte, dass du neben mir
glücklich wirst, mein Glück und meine Freude teilst.“

„Ich bin auch gekommen, mein königlicher Bruder, um mit
dir deine Freude und dein Glück zu teilen. Denn das ist nicht
das Glück alleine für dich, sondern für unsere Familie.“
„Danke, mein lieber Bruder“, antwortete der König von Jüt-
land, „an meinem heutigen Glück, das, wie du schon gesagt
hast, zu unserer ganzen Familie gehört, hast du auch deinen
Verdienst. Danke dir sehr dafür!“
„Haurwendil, ich möchte dir noch etwas sagen…“, begann
Fenge, „…dein Glück ist mein Glück, wie ich dir schon gesagt
hatte. wenn aber ich auch heirate, werden wir als königliche
Familie noch glücklicher, mein Bruder: Ich bin davon über-
zeugt.“
„Ha-ha-ha!“, der König wurde noch freudiger und glückli-
cher. „Davon träumst du jetzt! Sehr schön, mein Bruder!“
Danach wandte er sich an die Königin: „Hast du gehört? Er
ist gekommen, vor uns anzukündigen, dass er heiraten möch-
te. Das freut mich sehr!“
Gerud schenkte Fenge ein schönes und zärtliches Lächeln,
mit einer Klugheit, die nur Frauen kennen.
„Wen möchtest du heiraten, Fenge?“, fragte jetzt Haurwen-
dil. „Ich bin bereit, die Braut für dich zu werben. Du sollst nur
sagen, wer das sein sollte.“
„Dela“, antwortete Fenge, „Röriks jüngere Tochter.“
Eine Zeitlang schwiegen alle, dann fragte der König von Jüt-
land: „Willst du wirklich die Prinzessin Dela heiraten?“
„Ja“, antwortete Fenge, „das ist meine Entscheidung.“
„Er will deine jüngere Schwester heiraten“, sagte Haurwendil
zur Königin, „wie schön wäre das wirklich! Ha-ha-ha!“

3 Es wird berichtet, dass Saxo Grammaticus (12. Jh.) ein sehr gebildeter Mann war und am Hof der dänischen Könige diente. Er verfasste in Lateinisch „Die Chroniken“, einen Zyklus unter der Bezeichnung „Taten der Dänen“ (Gesta Danorum), worin er sowohl von mythischen als auch von historischen Königen der Dänen erzählt. Die Sage von Hamlet soll seine letzte Arbeit aus dieser Reihe sein. In Schriften des Saxo Grammaticus begegnen dem Historischen oft das Mythische und Sagenhafte. Die Motive der altgermanischen und keltischen Lieder mischen sich damit, was wirklich geschehen war. Daher ist auch die Sage von Hamlet eine Übergangsform zwischen Legende und Realität.

4 Der Name (H)Amlothi stammt möglicherweise von dessen ursprünglichem Namen Amplethus. Saxo Grammaticus verwendet Amplethus als latinisierte Variante von dessen ursprünglichem Namen, wobei, wie es üblich für Lateinisch ist, „H“ ausfällt: Amlethus statt Hamlethus. (H)Amplethus bedeutet dabei „Der Stumpfsinnige“ oder „Der Verrückte“. Im frühen Mittelalter war dieser Aberglaube unter vielen Völkern der welt verbreitet: Man glaubte, dadurch ein
Kind vor Neid, Hass, Beschwörungen und Zaubersprüchen schützen zu können, wenn man ihm bei der Geburt einen unschönen, merkwürdigen Namen gibt.
Wenn ein Kind, so glaubte man damals, einen schlechten, merkwürdigen Namen erhalten hätte, könnte es dadurch der Aufmerksamkeit der bösen, neidischen Menschen aus der Umgebung entgehen. Ohne dieser Aufmerksamkeit würden viele Menschen dem Kind nichts Schlechtes anzutun. Mit einem schönen Namen könnte das jedoch der Fall sein.

Frisch erschienen im Verlag Edition Outbird