Vougar Aslanov
DIE VERSPÄTETE KOLONNE
Roman (Auszug)
über die böse Schikane innerhalb der Armee und den sowjet-afghanischen Krieg
Afghanistan
… Sie formierten sich zu einer Kolonne und bewegten sich zum Ortseingang, wo sie die Technik gelassen hatten. Plötzlich hörten sie eine Stimme:
„Hey, Schurawi, kapitulieren! Ihr umgeben, alle Technik wir ergriffen, euer Wachsoldat tot.“
Ohne zu verstehen, wer da sprach, sahen die Soldaten die auf sie gerichteten Mündungen von Maschinenpistolen, Maschinengewehren und Granatwerfergewehren. Der Weg war zu beiden Seiten mit Bäumen und Büschen bewachsen. Und hinter diesen Büschen schauten die Mündungen der Maschinengewehre und Maschinenpistolen hervor. Und als sie sich umschauten, sahen sie, dass sie von bewaffneten Bärtigen eingekreist wurden.
„Wegtreten! Legt euch!“ schrie Zotow.
Die Soldaten parierten – doch einige wurden von den feindlichen Kugeln ereilt.
Auf dem Boden liegend befahl Zotow Panfilow, mit seinem Zug die Verteidigungsstellung von hinten und der rechten Flanke zu halten, er selbst werde mit dem Zug von Petrenko die Verteidigungsstellung von vorne und der rechten Flanke einnehmen. Die Kugeln kamen hageldicht. Es wurde von allen Seiten geschossen, Granaten explodierten. Zotow hoffte, die Verteidigungsstellung von links durchstoßen zu können und dirigierte beide Züge auf diese Seite. Ein Funkgerät gab es nur in seinem Panzerwagen, der in der Hand der Duschmanen war. Nicht einmal das Bataillon konnte er über die Katastrophe benachrichtigen. Zotow schimpfte vor sich hin, schrie bald Petrenko an, bald Panfilow, die beide keine besonderen Kampferfahrungen hatten. Durch das Feuer rückten beide Züge seitlich voran. Unter den Soldaten gab es schon große Verluste. Beim Versuch, einem Verwundeten Hilfe zu leisten, wurde der Bataillonsarzt selbst tödlich verwundet. Sein Assistent war bereits gefallen. Die Schreie der Verwundeten und sterbenden ertönten auf dem Kampffeld, kein Arzt, der ihnen helfen konnte. Die Soldaten versuchten, die verwundeten Kameraden unter dem Kugelfeuer heraus zu schleppen und mitzuziehen. Wo hätte man sie lassen können? So versuchten beide Züge die Umzingelung zu durchbrechen, aber diese Aufgabe schien nicht zu bewältigen. Denn die Duschmanen hatten Zotows Plan durchschaut und versuchten ihn zu verhindern. Als sich beide Züge auf offenem Feld vor der zahlenmäßigen Überlegenheit des Feindes trafen, erlebten sie große Verluste. Die Duschmanen waren im Vorteil. Die Soldaten bewegten sich langsam, genauer gesagt, sie schleppten sich mühsam zum Ziel, auf das sie Zotow beharrlich lossteuern ließ. Bis ihn eine Kugel am Kopf traf. Zotow blutete sich zu Tode. Er hielt sich weiter, schoss aus seiner Maschinenpistole, doch war für alle ersichtlich, dass ihn die Kräfte verließen. Ein Soldat schleppte Zotow weiter, der die Maschinenpistole nicht aus den Händen ließ.
„Lass mich, lass“, rief Zotow mit schwacher Stimme. „Ich brauche keine Hilfe, ich komme selbst zurecht!“
Aber der Soldat ließ ihn nicht los, zog ihn weiter in die Richtung, die auch die Züge nahmen. Als Panfilow sah, dass der Hauptmann tödlich verwundet war, übernahm er das Kommando. Schnell zeigte sich seine Unerfahrenheit und die Verbindung zwischen den Soldaten riss. Sie riss zwischen denen, die die Verteidigungsstellung von vorne hielten, und denen, die die linke Flanke der Umzingelung angriffen. Große Verwirrung, die Angreifenden versuchten, sich zu wehren und schossen ohne Verstand.
Die Verwirrung nutzend konnten die Mudschaheddin viele der Angreifer erschießen. Als die Soldaten sahen, dass der Flankendurchbruch unmöglich war, traten sie den Rückzug an. Sie gaben Zotows Plan, die Umzingelung zu durchbrechen auf, und der Kommandeur war schon nicht mehr am Leben. Panfilow selbst wurde durch eine Granate, die direkt neben ihm explodiert, jetzt auch schwer verwundet. Wieder schleppte ein Soldat einen Sterbenden mit sich. Vor seinem Tod übergab Panfilow noch das Kommando an Petrenko. Der aber war völlig verloren. Er war blass, konnte sich nur mühsam in die Richtung schleppen, die ihm der gefallene Kompaniekommandeur gewiesen hatte. Er hatte keine Ahnung, wie er die gebliebenen Soldaten befehligen sollte, wie er sie retten konnte. Er schrien ihnen zu, sich weiter Richtung Flanke zu bewegen. Dass sich die Situation verändert hatte und die Soldaten in Panik gerieten, konnte er nicht erfassen. Und die Soldaten, die die Unsicherheit Petrenkos spürten, hörten nicht auf seine Kommandos. Chaos breitete sich aus: jeder schoss und jeder bewegte sich in die Richtung, die er für die richtige hielt.
Alle hatten nur den Wunsch zu überleben, aus der Umzingelung rauszukommen und zu fliehen. Jedem schien, dass er, auf sich allein gestellt, leichter der Umzingelung entkommen könne. Aber die Mudschaheddin, die die Panik unter den sowjetischen Soldaten bemerkt hatten, schossen auf die sich im Chaos wendenden Kämpfer wie auf Hasen.
Zahid war bei den wenigen, die immer noch hofften, zusammen und unter Feuer aus der Umzingelung herauszukommen. Er war an der Schulter getroffen, aber die Wunde schien nicht tief zu sein, obwohl sie ununterbrochen leicht blutete. Zahid gab pausenlos Feuer ab, seine Maschinenpistole war nach zwei auf die Duschmanen abgegebenen Magazinen heiß. Er sah Petrenko, der immer noch versuchte, die Soldaten zu kommandieren. Er hörte die Mutterflüche der Soldaten, die machten, was sie für nötig hielten. Habibullin war noch da, der bestrebt war, die kämpfenden Soldaten zu organisieren, er schrie, gab Befehle. Bis er selbst getroffen wurde. Er schien tot, ohne den Schmerz von der seine Brust zerreißenden Kugel noch gespürt zu haben. Petrenko erhob sich ein wenig, um einen Befehl zu geben, aber er wurde sofort von einer feindlichen Kugel getroffen. Im Fallen ließ er seine Maschinenpistole los und blieb unbeweglich liegen. Zahid kroch zu ihm:
„Genosse Leutnant, was ist mit Ihnen?“ fragte er erschrocken und drehte den Kopf Petrenkos zu sich.
„Esrari, du?“ fragte der stark blutende Offizier mühsam.
„Jawohl, Genosse Leutnant, ich bin’s“, antwortete Zahid.
Der Leutnant lag nun mit offenen, gegen Himmel gerichteten Augen. Esrari verstand, dass er tot war. Er musste ihn zurücklassen und wieder das Feuer eröffnen. Die wenigen noch am Leben gebliebenen Soldaten wurden von der Hoffnung getragen, der Hölle zu entkommen. Weiterhin wurden sie von allen Seiten beschossen, Granaten und Geschosse explodierten neben ihnen, so viele fielen. Einige bewegten sich noch, krochen auf dem Boden unter abgerissenen Beinen und Armen, vorbei an Leichen und schreienden Verwundeten.
Esrari und vier Soldaten schafften es zur Flanke, zu der Zotow gewollt hatte, sie überfielen die Duschmanen mit Seitengewehren, obwohl sie völlig entkräftet waren. Mit letzter Kraft richtete Zahid seine Maschinenpistole auf den Bauch eines vor ihm auftauchenden Mudschahed. Da schlug ihm ein anderer den Kolben seiner Maschinenpistole übers Ohr. Zahid ging zu Boden.
Er wurde wach von irgendwelchen Gesprächen in afghanischer Sprache; zuerst schien ihm, als habe er alles geträumt: viele Leute um ihn herum, die afghanisch sprechen. Dann erkannte er, schon deutlicher, bärtige Männer in Turbanen. Sie saßen auf dem Boden, tranken Tee und unterhielten sich. Da lagen viele Waffen, es mussten Kriegstrophäen sein. Und Zahid bemerkte, dass er gefesselt war und sich nicht rühren konnte, wie die Soldaten aus seiner Kompanie auch nicht, die nicht weit von ihm in derselben Lage lagen. Die Kleidung war zerrissen, mit Blut befleckt, sie hatten Verletzungen, stöhnten vor Schmerz.
Was tat er hier? Zahid begriff nichts. Dann kamen die Erinnerungen zurück, einzelne Szenen schwammen vor seinen Augen. Sein Kopf weigerte sich, das Geschehene als Realität anzuerkennen. Ist das wirklich geschehen? Waren sie wirklich in eine feindliche Umzingelung geraten und zerschmettert worden? Sind Zotow, Panfilow und Petrenko, Habibullin wirklich gefallen? Er blickte zu den anderen Soldaten. Einige waren noch bewusstlos, aber die, die wach waren, hatten finstere, unglückliche Gesichter. Endlich verstand er, dass er und einige andere Soldaten Gefangene waren. Die Duschmanen warfen ihnen ab und zu hasserfüllte Blicke zu. Zahid hörte, wie einer riet, mit den sowjetischen Soldaten schnell Schluss zu machen. Der andere aber antwortete dahingehend, dass doch jemand gefragt werden müsse. Wer das war, verstand Zahid nicht.
Nach kurzer Zeit erschienen zwei groß gewachsene Männer, bärtig und wie Afghanen gekleidet. Doch wenn man sie aufmerksam ins Auge fasste, war schwer zu glauben, dass es Afghanen waren: so große Menschen sind unter den Afghanen selten zu treffen, beide hatten hellere Haut und auch ihre Gesichtsausdrücke waren anders. Sie warfen einen kalten und verächtlichen Blick auf die sowjetischen Soldaten und traten auf die Mudschaheddin zu. Zahid konnte manche Worte deutlich hören. Der eine Ankömmling, dick und nicht ganz jung, bat den anderen, seine Worte den Mudschaheddin zu übersetzen. Der andere, jung und mager, übersetzte die Worte aus dem Englischen ins Afghanische und umgekehrt. Nur war ihr Englisch ungewöhnlich. Es gab Wörter, die sie seltsam aussprachen. „Es muss das amerikanische Englisch sein“, dachte Zahid. Aber was machen sie hier bei den Mudschaheddin? Obwohl Zahid gehört hatte, dass die Amerikaner die Mudschaheddin unterstützten, ihnen beibrachten. Dass sie gemeinsam mit den Duschmanen gegen sowjetische Soldaten zu kämpften, hat er es allerdings nicht wirklich geglaubt. Es scheint, dass seine Kommandeure doch recht hatten: die Mudschaheddin werden von den Amerikanern ausgebildet. Und um so mehr glaubte er es, als er hörte, wie der ältere Amerikaner die Mudschaheddin zu der erfolgreichen Operation beglückwünschte. Der Amerikaner erörterten etwas mit den Mudschaheddin, und Zahid verstand, dass der Betrug mit dem Dorf und die Umzingelung ein amerikanischer Plan war. Zahid verstand auch, dass der ältere Amerikaner ein hochgestellter Offizier und der Dolmetscher ein Offizier niedrigeren Ranges war. Und er begriff, dass sie großen Einfluss, vielleicht sogar eine gewisse Macht über die Mudschaheddin haben…