Vougar Aslanov
Auf den Baumwollfeldern
Unser Haus lag neben einer Baumwollplantage. Genauer gesagt: unser Haus war das letzte in der Reihe und weil sich dahinter nur offenes Land erstreckte, unendlich weites Land, hatte sich jemand gedacht, hier Baumwolle anzupflanzen. Dieser Jemand war der von oben ernannte Ortsvorsteher. Aber nicht das Staatsoberhaupt selbst hatte ihn ernannt, sondern der Leiter unserer Republik, von denen das Staatsoberhaupt Dutzende befehligte. So gab der Ortsvorsteher eines Tages die Anweisung, das offene Land, das als Viehweide genutzt wurde und den Kindern als Platz für alle möglichen Spiele diente, in eine Baumwollplantage zu verwandeln. Der Vater schwieg dazu, doch die Mutter klagte, dass das weiße Pulver, das die „Maisflugzeuge“1 über den Baumwollplantagen abließen, uns sehr quälen werde.
Und in der Tat, irgendwann erschienen die „Maisflugzeuge“ am Himmel über unserem Haus. Lärmend zogen sie ihre Kreise über der Plantage, dann ließen sie einen langen, weißen Strahl ab, der, nachdem sie schon fort waren, noch lange in der Luft hing. Ich hatte diesen „weißen Rauch” schon früher, weit von unserem Haus, gesehen, doch nie gedacht, dass er so stinken und einen derart bitteren Geschmack auf der Zunge hinterlassen könnte, dass einem übel wurde. Der „weiße Rauch“ schwebte einige Zeit über der Plantage und setzte sich dann langsam auf den Baumwollpflanzen ab. Doch der leichteste Windhauch wehte ihn auf und dann senkte er sich auf die nah gelegenen Häuser und Gärten. Die Früchte in unserem Garten hatten nun einen weißen, wenngleich fleckigen Belag, da half auch sorgfältigstes Waschen nichts. Nach dem Besuch der „Maisflugzeuge“ konnte man sich eine Zeitlang nicht im Garten und auf der Veranda aufhalten, das Atmen fiel bisweilen schwer. Manchmal kamen gleich zwei oder drei „Maisflugzeuge“. Hörten wir ihren Lärm, so flohen wir ins Haus, warteten, bis sie wieder verschwunden waren und der unerträgliche Gestank, den sie mit brachten, sich in der Luft verflüchtigt hatte. Die „Maisflugzeuge” kamen nur in der heißen Jahreszeit. Oft gerade dann, wenn wir beim Mittag- oder Abendessen auf der offenen Veranda saßen. Dann verließen wir fluchtartig den schon gedeckten Tisch, liefen ins Haus und warteten, bis alles still war. Wie groß war unsere Verzweiflung, wenn wir die Speisen mit dem weißen, milchigen Staub bedeckt fanden. Denn Lebensmittel wurden bei uns stets in genau bestimmter Menge für eine Mahlzeit gekauft. Waren sie verdorben, blieben die Teller leer. Wir Kinder wollten unser Essen manchmal von diesem „Fluch”, der uns gesandt wurde, reinigen und dann essen, doch die Mutter erlaubte dies nicht.
Der Vater ging morgens immer früh aus dem Haus und kehrte erst spät am Abend zurück. Bereitete die Mutter das Essen zu, so stellte sie einen großen Teil in einer Schüssel für ihn beiseite. Die Schüssel blieb stets im Haus, so dass nach einem „weißen Angriff“ der für den Vater bestimmte Teil genießbar blieb. Oft musste uns die Mutter gut zureden, bis zur nächsten Mahlzeit auszuhalten. Dann rief sie uns zu sich und erzählte uns interessante Märchen. Manchmal half dies, und wir hielten durch, bis der Vater mit neuen Lebensmitteln kam und die Mutter ein neues Mahl bereiten konnte. Doch manchmal waren wir so hungrig, dass gar nichts half, und dann brachte die Mutter das beiseite gestellte Essen, und wir stürzten uns darauf, wohl wissend, dass der Vater uns verzeihen wird.
An solchen Tage erinnerte ich mich immer an die Geschichte von der Frau mit den drei Kindern, die die Mutter oft erzählt hatte. Zu dieser Frau kommt eines Tages der als einfacher Wanderer verkleidete Herrscher mit seinem Ratgeber zu Gast. Die Kinder betteln die ganze Zeit, ob es nicht bald etwas zu Essen gäbe. Doch die Mutter zeigt jedesmal auf die auf dem Feuer stehende Kasserolle und sagt, dass das Essen noch ein wenig brauche, und sie wartet, bis die Kinder eingeschlafen sind. Und ebenso geschieht es am nächsten Tag. Doch in der Nacht kann der Herrscher seine Neugier nicht mehr zügeln. Er steht auf und nimmt den Deckel der Kasserolle hoch, weil er wissen möchte, was das sei, das in zwei Tagen nicht fertig gekocht werden konnte. Er entdeckt darin zwei kleine Wackersteine. Für uns aber gab es in den schwersten Minuten das Essen des Vaters.
Der Onkel arbeitete dort, wo die „Maisflugzeuge“ aufgetankt und mit Pulver beladen wurden. Er war ein mürrischer, sehr großer Mensch und konnte so laut brüllen, dass es einem tagelang in den Ohren klang. Alle sagten, dass er seine Sache sehr gut verstehe. Nach einiger Zeit wurde der Onkel zum Verantwortlichen für die „Maisflugzeuge“. Doch wurde er immer mürrischer und liebte es nicht, auf Fragen nach seiner Arbeit zu antworten. Ich fürchtete ihn sehr und zitterte jedesmal, wenn er sich an mich wandte. Und doch fasste ich einmal den Mut, ihn zu fragen, warum das „weiße Pulver“ notwendig sei und ob man nicht ohne auskommen könne. Der Onkel sah mich mitleidig an und erklärte, dass das „Pulver“ zur Vernichtung der Insekten diene, die der Entwicklung und dem Wachstum der Baumwolle schaden könnten. Es gebe andere sehr teure Mittel, die die Umwelt nicht schädigen. Doch würden sie in anderen Ländern produziert und daher bei uns nur selten eingesetzt.
„Und kann das Mittel auch Menschen töten, Onkel?“ fragte ich.
„Die Insekten tötet es gleich, die Menschen nicht so schnell…“, antwortete der Onkel.
Schon lange bevor unser Weideland in eine Baumwollplantage verwandelt worden war, pflanzte man in unserer Gegend Baumwolle an. Die Menschen verstanden etwas davon, ein jeder hatte am Jäten teilgenommen, also der Säuberung des Plantagenbodens und der Baumwollsaaten von Unkraut. Jahr für Jahr, vom Frühling bis in den späten Herbst, zog die ganze Bevölkerung auf die Baumwollfelder, zuerst zum Jäten und dann zur Ernte. In dieser Zeit waren alle öffentlichen Einrichtungen geschlossen, die Straßen wie ausgestorben. Auf der Hauptstraße standen dann Polizisten um einen Mann herum, der auf einem Stuhl saß und schrie:
„Begeben Sie sich auf die Plantage! Alle in die Baumwolle!“
Das geschah in der Regel morgens. Dann teilten sich die Polizisten in mehrere Trupps auf und zogen durch die Straßen, manchmal gingen sie auch in die Häuser, um all diejenigen aufzugreifen, die sich vor der Arbeit drücken wollten. Fassten sie jemanden, wurde er sofort auf die Plantage geschickt.
1 Kleine, altmodische Flugzeuge, die in der Chruschtschow-Ära zur Insektenbekämpfung in den damals vorzugsweise angebauten Maisfeldern eingesetzt wurden. Sie behielten ihren Namen auch dann, als nach Chruschtschow der Mais nicht mehr bevorzugt wurde und man die Flugzeuge zur Insektenvertilgung in anderen Anbaugebieten benutzte.